Mühsame Schritte im Namen Gottes

Jedes Jahr machen sich viele Menschen auf und pilgern nach Vierzehnheiligen. Ich konnte mir nie vorstellen, für was dieses Laufen im Kreis fremder Menschen mit stetigen Gebet und Gesang gut sein sollte. Als dann, vor ungefähr zwei Monaten meine Freundin Alexandra von der Wallfahrt von Wermerichshausen zur Basilika nach Vierzehnheiligen schwärmte, beschloss ich diese Erfahrung selbst zu machen.

Mit Skepsis, Zweifel und großer Unsicherheit lies ich mich am Donnerstag auf dieses Vorhaben ein. Um 11.00 Uhr trafen wir uns vor dem Haus meiner Freundin und luden die Koffer ein. Im Gepäck waren Kleidung für sonnige und regnerische Tage, aber auch kleine Hilfsmittel wie Arnika gegen Muskelkater, Voltaren gegen Gelenkschmerzen und natürlich Traubenzucker und etwas zu Trinken. Als ich den großen Koffer meiner Freundin sah, überlegte ich kurz, ob sie eine Weltreise unternehmen wollte oder ich einfach nur viel zu wenig eingepackt habe. War das die richtige Entscheidung? Statt fünf erholsame Tage auf der Couch mehr als 70 Kilometer an eineinhalb Tagen zu laufen. Ich zweifelte schon jetzt daran und erklärte mich für blöd.

Es gab aber kein zurück, wenn ich das Gesicht wahren wollte. Also stieg ich in das Auto ein und wir fuhren zum Treffpunkt nach Wermerichshausen. Dort standen mehr als vierzig Menschen jeglicher Altersgruppe. Mit einem freundlichen Hallo und vielen Umarmungen wurde sie begrüßt. Eine Vertrautheit war erkennbar. Ich tappte ihr wie ein kleiner Pudel immer schön hinterher, begrüßte auch die vielen fremden freundlichen Menschen, lud meinen Koffer und meine Tasche auf und dachte, hoffentlich laufen wir bald los.

Nun ging plötzlich alles schnell. Die Fahnen- und die Bilderträger zu Anfang. Es folgte Hektik. „Schnell, hierher“, rief mir meine Freundin zu,,„lauf lieber vorne mit“. In Viererreihen nahmen wir Aufstellung. Vor uns war noch Volker, seine Schwester Sabine und der Vater der beiden. Alexandra erklärte mir, dass sich dort noch Anja ab Wettringen einreihen wird. Nachdem die restlichen Pilger, die Lautsprecherträger, die Musikkapelle, die Vorbeter, die Sänger ebenso aufgestellt hatten, ging es los. Vorneweg lief ein junger Mann mit Warnweste und zeigte uns den Weg. In den nächsten Ortschaft stießen noch viele Menschen hinzu. Der Weg führte uns über Weichtungen, Thundorf nach Stadtlauringen. Am Markplatz wurden wir von einer großen Menschenmenge willkommen geheißen und ich musste schnell mal auf die Toilette. Das Rathaus war nicht fern, jedoch hatten andere Pilger die gleiche Idee. Der Klo war überfüllt, ich musste warten. Endlich fertig, überholte ich die schon davon ziehenden Wallfahrer. Jetzt wusste ich, warum meine Freundin mir den Rat gab mich vorne einzureihen. Wie hätte das ausgesehen, wenn ich mit meinem Rucksack bepackt hinterher gerannt wäre.

Schritt für Schritt wurde der Weg nach den ersten zwanzig Kilometern mühsam. Die Füße kochten in den neuen, aber schon eingelaufenen „Asics“ Walkingschuhen. Meine Strümpfe durfte ich schon seit drei Wochen nicht mehr Waschen, sonst gibt es Blasen, so hat es geheißen. Ich nahm jeden Rat in der Vorbereitung auf die Wallfahrt an. Arnika lutschte ich gegen den Muskelkater, Magnesium zur Muskelstärkung. Mit Gebet, Gesang und Meditation ging es dem ersten Etappenziel entgegen. Eine angenehme Ruhe und Besinnung war zu spüren. Gebete schlossen das persönliche Anliegen mit ein. Ich fühlte mich angesprochen, angenommen, aufgehoben.

Plötzlich hörte ich durch den Lautsprecher „Pause“. Ich blieb stehen und wurde schnell von links und rechts weiter gezogen. Was war das? Es war kein Anhalten, sondern nur eine Redepause mit gleichzeitigem weiter laufen. Disziplin und Ordnung war für mich erkennbar.

Nun lernte ich meine mit mir laufenden Vorder- und Hintermänner kennen. Rechts war meine Freundin Alexandra, links deren Freundin Petra und daneben die Tante von Alexandra. Vor mir Volker, Sabine und ihr Vater. Sabine lief auch das erste Mal mit. Hinter mir war eine Familie aus Albershausen bei Bad Kissingen, die auch zum ersten Mal an der Wallfahrt teilnahm. Das junge Mädchen war die Freundin des Kreuzträgers. Nach drei Stunden zogen wir in Wettringen in die Kirche ein. Die Pause verbrachten wir in einer Gastwirtschaft. Es gab Essen und Trinken. Dann musste ich laut meinen neu gewonnenen Freunden mit auf die Toilette zum „Schmieren“. Das Eincremen gehört zur Tradition und sei äußerst notwendig, wurde mir gesagt. Also holte ich auch meine Creme heraus und massierte damit die Oberschenkel und Waden. Bei meiner kräftigen Statur und dem fehlenden Training war das ja auch notwendig. Die ersten Muskeln machten sich schmerzhaft bemerkbar. Ich musste grinsen, wenn ich die anderen „Mittelchen“ sah. Jeder hatte so sein eigenes Rezept, von Franzbranntwein bis zur Pferdesalbe.

Nach eineinhalb Stunden ging es weiter. Für heute mussten wir nur noch in Goßmannsdorf ankommen. Dort würden wir bei Privatleuten untergebracht. So viel Gastfreundschaft konnte ich mir nicht vorstellen und zweifelte daran, dass wir alle ein Bett bekommen würden.

Gegen 19.00 Uhr erreichten wir die Ortschaft und wurden schon von vielen Menschen mit parkenden Autos erwartet. Ruckzuck waren alle Menschen fort und verteilt. Unsere Gastfamilie war ein älteres Ehepaar, deren Kinder nicht mehr zu Hause wohnen. Für sechs Personen stellten sie ein Bett zur Verfügung und wir konnten im Gartenpavillon speisen.

Müde fielen wir ins Bett. An Schlaf war aber nicht zu denken. Die vielen Erlebnisse, Gespräche und Anregungen gingen mir durch den Kopf. Aufgedreht und aufgeregt wälzte ich mich von der einen zur anderen Seite und achtete gleichzeitig darauf, meine Freundin dabei nicht zu wecken.

Am nächsten Morgen klingelte schon um 4.30 Uhr der Wecker, kurze Zeit später krähte der Hahn. Es war der Wecker im Handy von Petra im Nachbarzimmer. Schnell anziehen, frühstücken, Koffer packen und einladen und um 5.30 Uhr zogen wir feierlich aus der Kirche in Goßmannsdorf.

Es folgte der erste Berganstieg und das am frühen Morgen! Mühsam setzte ich Schritt vor Schritt und orientierte mich an meinen Vordermann, der ja eine Frau war. Die beige Wanderhose, die weiß-blauen Joggingschuhe und die gelbe Regenjacke waren mir ja schon so vertraut vom Vortag.

Oben am Berg hielten wir zur Einkehr und zum Gebet. Um uns herum erwachte die Natur. Die Sonne ging auf, die Vögel zwitscherten und die Luft war klar und rein. Diese Stille berührte meine Seele. Nun folgte eine schöne Wegstrecke durch den Wald. Der Duft von frischem Holz, Moos, Matsch und Regen mischten sich in die Gebete und Gesänge mit ein. Fern von der Hektik meines Alltags verspürte ich eine große Zufriedenheit in dieser Gemeinschaft.

Allmählich wurden mir die Beine schwer. Die Füße schmerzten und der Rücken war verspannt. Meine Schritte wurden schwerer. In Burgpreppach sagte man mir, dass wir nun die Hälfte der Gesamtstrecke geschafft hätten. Ich empfand dies beängstigend, denn ich war müde. Das erste Mal verglich in den Lauf mit meinem Lebensweg. Nicht immer bestand er nur aus Glück und Sonnenschein, oft lagen mir Steine im Weg oder er war mühsam und schmerzlich. Durchhalten, sich anstrengen war schon immer meine Devise. Dass sollte mir doch jetzt auch glücken, oder?

Neben mir wurde das Klagen immer lauter. Alexandra hatte sich Blasen gelaufen und die Bergan- und –abstiege trieb den Schweiß. Trotzdem waren dies wertvolle Momente. Fremde Menschen lernten sich kennen und schätzen, sangen gemeinsam christliche Lieder von Freude und Leid, baten um Gesundheit und Glück und dankten. Getragen wurde diese Gemeinschaft von Hilfsbereitschaft, Anteilnahme, Respekt und Achtung.

Allmählich erkannte ich, warum meine Freundin diesen mühsamen Weg jedes Jahr auf sich nimmt.

Nach einem Berganstieg folgte ein beschwerlich steiler Abstieg, genannt der „Gereuther Hügel“. Bald wusste ich, warum. Es ging – das Ziel in der Ferne vor Augen – stetig steil bergab. Die Knie, Waden und Oberschenkel schmerzten. Schon nach kurzer Zeit bei mir auch der Rücken. Dieser Belastung war er nicht mehr gewachsen. Tränen der Verzweiflung schluckte ich hinunter. Ich überlegte das erste Mal, wie ich meiner Freundin beibringen sollte, dass ich mich nun abholen lasse und die Wallfahrt abbreche. Meine Gedanken kreisten, meine Stimme und Stimmung schwankte. Das an mir so wohlbekannte Lächeln kam nicht mehr über mein Gesicht. Sollte es das nun gewesen sein. Selbst das Ziel – die wunderschöne Basilika von Vierzehnheiligen – und einen erholsamen Tag im Pilgerwohnheim motivierten mich nicht mehr.

In Kaltenbrunn war die nächste Rast. Ich saß auf meinem Stuhl und überlegte, was ich tun kann und kämpfte gegen meine Tränen. Schweigsam saß ich auf meinem Stuhl. In nächster Nähe rang Sabine ebenso mit der Fassung. Sie hatte Problem mit dem Kreislauf. In der Pause kehrten nach und nach die Kräfte zurück, die Schmerzen ließen nach. Allmählich öffnete ich mich, ging zum Sanitäter und bat um eine Schmerztablette. Nun konnte es weiter gehen. Ich stellte fest, dass diese Wallfahrt wie das echte Leben ist. Nicht immer gibt es nur Glück und Freude, sondern auch Durststrecken mit Leid und Verzweiflung. Jedem ist ein andere Lebensweg bestimmt. Jeder Mensch hat ein anderes Bild vom Leben. Der eine erfährt Glück, Freude und Sonnenschein. Ein anderer muss schwer schuften um sich ab und zu etwas leisten zu können und wieder ein anderer darf andauernd schwere Schicksalsschläge verkraften. Dennoch ist man im Leben nicht allein. Ähnlich wie bei dieser Wallfahrt leben wir in einer Gemeinschaft. Sie verleiht Flügel und lässt über so manche Beschwerden hinwegsehen. Man erkennt, wie wichtig und wertvoll andere Menschen sein können.

Es folgte eine schöne, aber sehr windige Strecke am Hühnerhof vorbei zum Maintal. Von dort aus, war Vierzehnheiligen nicht mehr fern. Das Ziel in den Augen überquerten wir den Main bei Schönbrunn. Volker rief mir und Sabine zu, spuckt in den Main. Wir taten es und erfuhren, dass man damit als „Neuling“ kundtut, wieder nach Vierzehnheiligen zu laufen.

Ich musste schmunzeln. Der Wind lies unsere Spucke nicht in den Main fallen, sondern trieb die Tröpfchen in die Gesichter der hinter uns laufenden Menschen.

Schritt gingen wir nun dem Berg entgegen. Dorthin, wo einst einem Hirten das Jesuskind mit den 14 Heiligen Nothelfern erschien und wo heute Balthasar Neumanns prächtige Basilika weit hinaus ins Frankenland grüßt. Am Fuße des Berges wurden wir vom Zeremonienmeister begrüßt und plagten uns die 110 ausgetretenen Stufen hoch. Oben angekommen warteten einige Familienangehörige auf uns und zeigten durch Worte und Gesten die Anerkennung für diesen beschwerlichen Weg. Christ sein, ist nicht der einfache Weg, aber der beglückende und erfüllende.